Weniger ist oft mehr!

Die Kunst der Mengenbestimmung bei Haarbezügen

Ein wesentlicher Bestandteil des Bogenmacherberufes ist die Neubespannung von Streichbogen. Von einigen als notweniges „Übel“ betrachtet, ist dies für mich ein wichtiger und wertvoller Teil meiner Arbeit. Immerhin ist das Bogenhaar mit seiner Qualität und Beschaffenheit der direkte Zugang zur Tonerzeugung am Instrument. Die Musiker haben tagtäglich mehrere Stunden den Bogen in der Hand und spüren deutlich, wenn ihr Handwerkszeug nicht wie gewohnt funktioniert. Mit meiner langjährigen Erfahrung versuche ich den immer wieder auftretenden Fragen auf den Grund zu gehen und Abhilfe zu schaffen.
Vor fast 10 Jahren hatte ich in meiner Werkstatt folgendes Erlebnis: Eine Kundin, ausgezeichnete Geigerin, beauftragte mich mit der Erneuerung des Haarbezuges ihres alten englischen Violinbogens. Einige Tage nachdem sie den Bogen bei mir neu bezogen wieder abgeholt hatte, erschien sie völlig verzweifelt in meiner Werkstatt. „Der Bogen klingt nicht mehr“ waren ihre Worte. Und weiter: „Bitte nehmen Sie 20 Haare heraus“. Obwohl die Bitte der Kundin für mich völlig unbegreiflich war, entnahm ich dem Bogen fachgerecht besagte 20 Haare und ließ sie wieder mit dem Bogen spielen. Deutlich hörbar war das etwas dumpfe aus dem Klang verschwunden, die Violine strahlte und störende Nebengeräusche waren verschwunden. Ich war über das Ergebnis sichtlich erstaunt, hatte jedoch mit dieser Maßnahme meiner Kundin helfen können.
Jahre später erschien ein Kunde in meinem Geschäft, der Besitzer einer meiner Tourte-Kopien ist. Am Boden zerstört zeigte er mir den Bogen und klagte, dass alle positiven Eigenschaften des Bogens, die zur Kaufentscheidung geführt hatten, verloren gegangen seien. Er sei nun schwammig, schlapp, hätte seine Spritzigkeit verloren und klanglich sei er dumpf mit vielen störenden Nebengeräuschen. Nach eingehender Analyse konnten wir feststellen, dass die einzige Veränderung am Bogen ein unglaublich dicker neuer Bezug war. Die ursprünglichen 5,0 g des optimalen Bezuges für diesen Bogen wurden in einer anderen Werkstatt durch unglaubliche 7,4 g ersetzt. Eine sachgemäße Erneuerung des Bezuges ließ alle bekannten positiven Eigenschaften der Kopie wieder erstrahlen.
Was sind nun die Ursachen derartig massiver Beeinträchtigungen der Spiel- und Klangeigenschaften? Würden wir beispielsweise einen Bogen mit nur einem einzigen Haar bespannen, hätte dieses eine extreme Spannung, ja würde eventuell sogar sofort reißen. 1000 Haare hingegen müssten sich die Zugspannung der Bogenstange teilen, alle Haare wären auch bei exakt gleicher Länge schlaff und hätten kaum Spannung. Gleichzeitig würden alle- also auch die übereinanderliegenden - Haare versuchen, an der Kontaktstelle an die Seite zu kommen. Die dadurch entstehenden Reibungsgeräusche wirken sich direkt auf den Klang als störendes Nebengeräusch aus.
Oft wird der Wunsch an uns herangetragen, dem Bogen an der Spielseite mehr Haare zu geben. Die Musiker möchten sich eine kleine „Reserve“ einbauen lassen, falls die Haare beim Spielen an dieser Seite durch größere Beanspruchung schneller reißen oder auch um den Bogen eventuell mehr Seitenstabilität zu geben. Sieht man sich jedoch das obige Beispiel etwas näher an, so erkennt man, dass hierdurch die Spannung der Haare an der Spielseite herabgesetzt wird. Dadurch kommt der Musiker beim Spielen leichter mit der Bogenstange bis auf die Saite und die Haare werden so massiv zwischen Holz und Saite gerieben, dass es viel schneller zu Haarbruch kommt. Das geschieht natürlich auch, wenn insgesamt zu viele Haare im Bezug sind. Darüber hinaus ändern derartige Experimente deutlich die seitliche Biegung der Stange, was extremen Einfluss auf die Klang- und Spieleigenschaften des Bogens hat (siehe Ausgabe 3 oder unter www.gerbeth.at). Da die Haare jedoch schneller reißen, bleibt das System nicht stabil. Mit jedem einseitig gerissenen Haar verändert sich die Seitwärtsspannung der Stange. Der Bogen verändert also fortwährend seine Spiel- und Klangeigenschaften und zwar deutlich massiver als bei gleichmäßig eingebrachten Bezügen mit gezielt ausgewählter Haarmenge.
Aufgabe des Meisters ist es also, aus den Faktoren Stangenfestigkeit, Biegungstiefe, Kopf- und Froschhöhe und der Art des Bogens die optimale Menge an Haaren zu wählen. Vor über 20 Jahren war es Bestandteil meiner Lehrausbildung, für die damaligen Meister der Werkstatt die Haarbezüge vorzubereiten. Damals wurde Haar für Haar gezählt. Jede Bogenart (Violine, Viola, Cello oder Kontrabass) hatte seine zugewiesene Anzahl von Haaren. In anderen Werkstätten habe ich erlebt, dass die Haarmenge mit einem vorgefertigten Muster, mit Angaben der einzelnen Bogenarten, ermittelt wurden. Bei guten Mustern ist diese Methode deutlich genauer als die zahlenmäßige Ermittlung der benötigten Haarmenge. Wie beim Menschen gibt es auch zwischen den einzelnen Haaren der Pferde extreme Unterschiede in der Stärke, Beschaffenheit, Oberfläche, Strapazierbarkeit etc.. Selbst innerhalb einer Lieferung variieren die Haarstärken deutlich. Durch das Naturprodukt Bogenhaar bedingt, können die Bezugstärken bei gleicher numerischer Haarmenge deutlich variieren, was mittels der Mustermethode reduziert wird.
Die genaueste Methode ist jedoch die, bei der die Haare gewogen werden. Zunächst kann man sich mit dieser Methode am intensivsten auf die Aussortierung unbrauchbarer Haare konzentrieren. Unbrauchbar sind Haare mit Unregelmäßigkeiten in der Stärke, Knötchen, Verwachsungen, aber auch Haare mit Farbfehlern und unflexible, „trockene“ Haare. Auf diese Weise landen ca. 30 – 60 % des Ausgangsmaterials im Mistkübel. Diese zeitraubende Arbeit ist jedoch notwendig, um dem Musiker einen strapazierfähigen, hochwertigen Bezug liefern zu können. Bei der Zählmethode ist die Konzentration deutlich auf die zahlenmäßige Erfassung der Haar gelenkt, weniger auf die Qualität. Bei der Wiegemethode kann jedoch jedes einzelne Haar kontrolliert werden, zwischendurch wird immer das Gewicht des vorbereiteten Bezuges gewogen und die Menge anschließend ergänzt oder reduziert.
In meiner Werkstatt verwenden wir hochwertige Haare mit einer ursprünglichen Länge von mehr als 100 cm. Diese stammen ausschließlich von Hengsten, da die Haare viel weniger von der Harnsäure angegriffen sind als bei Stuten und dadurch haltbarer sind. Naturbedingt werden die Haare im unteren Schwanzbereich zunehmend dünner. Dieser Bereich wird abgeschnitten. Die Nutzung äußerst langer Haare gibt mir die Möglichkeit, im fertigen Bezug nur die besten Abschnitte dieses hochwertigen Materials zu verwenden.
Die Möglichkeiten des Bogenmachers, die Haarqualität zu prüfen liegen im Wesentlichen in der physikalischen Beurteilung der Haare. Wie verhält sich das Haar also unter Belastung? Ein einzelnes, normales Haar kann ca. 600 – 800 dg Gewicht aushalten ohne zu reißen. Zieht man hochwertiges Haar auseinander, gibt es nach und zieht sich anschließend wieder zusammen. Für die Beurteilung des Ergebnisses spielt die Erfahrung des Bogenmachers eine entscheidende Rolle. Natürlich können die auf diese Weise überbeanspruchten Haare nicht mehr verwendet werden, worin sich ein wesentliches Problem zeigt. Der Meister kann aus jedem sogenannten „Bund“ (Liefermenge ca. 0,5 bis 1,0 Kg) nur einige Stichproben nehmen. Eine 100% Gewähr für die durchgängige Qualität der Lieferung kann auf diese Weise nicht gegeben werden, auch wenn die Tests natürlich aussagekräftig sind.
Wenige Möglichkeiten haben wir bei der Beurteilung der Griffigkeit und Langlebigkeit der Bezüge. Da sind wir bei aller Sorgfalt abhängig von den Rückmeldungen unserer Kunden. Gerade die Beurteilung der Langlebigkeit der Haare stellt uns vor eine große Herausforderung, da wir im Durchschnitt pro Monat eine Lieferung Haare verarbeiten. Daraus ergibt sich, dass zum Zeitpunkt eventueller negativen Rückmeldungen die verwendete Lieferung bereits aufgebraucht und der neue Bund die angesprochenen Probleme eventuell gar nicht aufweist. Trotzdem sind alle Rückmeldungen - wir nehmen auch gerne positive Rückmeldungen entgegen – wichtig für die kontinuierliche Sicherung der Qualität unserer Haarbezüge.
Über die Methode, der Befestigung der Haare im Bogen, können Sie im 5. Teil der „Herstellung eines Violinbogens“ im Mittelteil dieser Ausgabe nachlesen“.

Thomas M. Gerbeth